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Ostbelgien für Einsteiger

Die „Volksbefragung“ (1920)

31.08.2022
  • Labor
  • Ostbelgien für Einsteiger

Während des Kriegs debattierte die Öffentlichkeit aller Krieg führenden Länder über Annexionen. Besonders ausgeprägt war dies in Deutschland. Aber auch in Belgien wurden Forderungen laut. Deutsche Gebietsabtretungen sollten eine Wiedergutmachung für die hohen Schäden sein, die Belgien während des Kriegs erlitten hatte. In diesem Geiste sollte auch die Region um Eupen, Malmedy und Sankt Vith, das heutige Ostbelgien, die vor 1815 eine gemeinsame Geschichte mit einem Großteil des belgischen Gebietes teilte, „zurückverlangt“ und damit „vom preußischen Joch erlöst“ werden.

Denn das heute Ostbelgien genannte Gebiet war auf dem Wiener Kongress (1815) dem Königreich Preußen zugeordnet worden, wo es die Kreise Eupen und Malmedy bildete. Als diese durch den Vertrag von Versailles Belgien zugesprochen wurden, kam im Französischen in Anlehnung an andere europäische Grenzgebiete, die das Land wechselten, die Bezeichnung „cantons rédimés“ auf. Das Verb „rédimer“ bedeutet so viel wie „erlösen“ oder „befreien“. Diesem Narrativ zufolge ist das Gebiet infolge der deutschen Niederlage und durch seine Angliederung an Belgien befreit worden.

In Artikel 34 des Vertrags von Versailles wurden die Durchführungsmodalitäten der sogenannten „Volksbefragung“ (so der Wortlaut im französischen Vertragstext) bzw. „öffentlichen Meinungsäußerung“ (so der Wortlaut im englischen Vertragstext) in Eupen-Malmedy festgelegt. Diese waren einzigartig, denn in keinem anderen Grenzgebiet wurden ähnliche Maßnahmen vorgenommen. Diese Volksbefragung war keine geheime und unabhängige Abstimmung, sondern sollte lediglich den Schein des Selbstbestimmungsrechtes der Völker wahren. Wer gegen den Anschluss an Belgien protestieren wollte, konnte sich nur vor belgischen Beamten nach einer Rechtfertigung namentlich in Listen in den Kleinstädten Eupen und Malmedy eintragen. Sowohl von belgischer als auch von deutscher Seite hat es zahlreiche Beeinflussungsmanöver sowie Proteste gegeben. Letztendlich war die betroffene Bevölkerung dermaßen verunsichert, dass sich nur wenige in die Liste eintrugen. In der kollektiven Erinnerung war dieser Einschnitt so stark, dass das Thema der Volksbefragung die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg völlig überdeckte.

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    Judith Molitor
Meinung:

„An dieser Stelle muss auf das bemerkenswerte Ungleichgewicht in der Erinnerungskultur auf beiden Seiten der Grenze hingewiesen werden: Während die Umfrage in Belgien solche Wellen schlug, ist sie beispielsweise in der [deutschen] Eifel (fast) unbemerkt geblieben. Das heißt, den Zeitgenossen sicherlich nicht, aber schon für die Generation meiner Großeltern (also den Jahrgängen ab Mitte der 1920er Jahre) spielte dies eine so geringe Rolle, dass ich persönlich erst in der Oberstufe (und auch nur am Rande!) davon erfahren habe.“

Die Bezeichnungen „pays/territoires/cantons rédimés“ sind gegen Kriegsende geläufige Begriffe in der Presse, um von Grenzgebieten zu reden, die aufgrund historischer Argumente anderen Ländern zugeordnet wurden bzw. werden sollen. Dies betrifft beispielsweise auch Gebiete, die von Italien oder Frankreich aus einer nationalistischen Sichtweise „zurückgewonnenen“ wurden. Belgische Diplomaten und Politiker vertraten schon während des Krieges die These der „Desannexion“ von deutschem Grenzgebiet, dass 1815 zufälligerweise Preußen zugeordnet worden war. Letztendlich waren es aber wirtschaftliche und strategische Argumente, die die Alliierten in Versailles dazu bewegten, Belgien Eupen-Malmedy als Entschädigung zuzuordnen. Aus belgisch-nationalistischer Sicht wurde das Gebiet des heutigen Ostbelgiens also nach 105-jähriger preußischer Zeit „zurückgewonnen“. Dies erklärt Bezeichnungen wie „cantons rédimés“ oder „zurückgefundene Brüder“.

  • Michel_Pauly
    Michel Pauly
Meinung:

„In der luxemburgischen Erinnerungskultur gibt es unendlich viele Erzählungen über wie, wann und wo die amerikanischen Streitkräfte Luxemburg 1944-45 befreit haben. Die amerikanischen Soldaten wurden bei ihrem Einmarsch in Luxemburg als Befreier gefeiert, da sie die Bevölkerung von der verhassten Naziherrschaft befreiten bzw. erlösten. Durch die Erlösung von dem „Bösen“ – den Deutschen – durch das „Gute“ – die Amerikaner – kann jeder sich an positive Erlebnisse mit den Amerikanern und an negative mit den Deutschen erinnern, während sich wenige heute an umgekehrte Verhältnisse erinnern möchten. Die Befreiung Luxemburgs durch die Amerikaner hatte und hat durchaus positive Folgen für Luxemburg, aber die Dämonisierung des einen und die gleichzeitige Heroisierung des anderen führte zu einer Schwarzweißmalerei in der kollektiven Erinnerung, die es heute der luxemburgischen Geschichtsschreibung erschwert, die Verhältnisse zwischen Luxemburgern und den deutschen Besatzern, und den Luxemburgern und den amerikanischen Befreiern, darzustellen.“

  • Claudia Kühnen_Aachen
    Claudia Kühnen
Meinung:

„Auch die Geschichte ‚Deutschlands‘ ist von der Frage nach der eigenen Identität geprägt. Von etlichen kleinsten Fürstentümern zu einem Deutschen Reich 1871, zu Preußen und den ‚verlorenen‘ Teilen Elsass, des heutigen Polens, der Ostkantone usw. waren die deutschen Grenzen stets verschwommen und änderten sich ständig. Schon das „Lied der Deutschen“ von von Fallersleben, das letztendlich zur deutschen Nationalhymne wurde, beschäftigt sich damit, was „Deutschland“ und „die Deutschen“ ausmacht.“