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Historische Räume

Freizeit und Erinnerung: Das Wetzlarbad

20.06.2022
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Nur wenige Orte in Ostbelgien stehen stellvertretend für eine die ganze Gesellschaft betreffende Freizeitkultur. Das Wetzlarbad ist einer dieser Orte, der zu einem Kristallisationspunkt der Freizeitpolitik der Stadt Eupen wurde.

Freizeit und körperliche Ertüchtigung der Bevölkerung waren Denkkategorien, die langsam in den 1920er Jahren aufkamen. Freizeit war natürlich zunächst der wohlhabenden Oberschicht vorbehalten oder wurde durch fortschrittlich denkende Industrielle gewährt. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde in zahlreichen europäischen Ländern (Deutschland 1918, Belgien 1921) der Achtstundentag für Arbeitnehmer (bei einer Sechs-Tage-Woche) eingeführt, der der Arbeiterschaft mehr Freizeit gab.

Tatsächlich steht das Eupener Wetzlarbad für die sich in den 1920er Jahren herausbildende Freizeitindustrie, für die Vergnügungs- und Zerstreuungskultur in der Weserstadt. Es steht damit nicht alleine in Eupen. Auch das Kino Capitol, das 1932 eröffnet wurde, war bis 1970 ein Ort der modernen Unterhaltungskultur.

Das Wetzlarbad in der Eupener Unterstadt, am Fluss Hill gelegen, wurde am 5. Juni 1932 eingeweiht. Pläne des Aachener Architektenbüros Helg & Dauven dienten als Vorlage. Die Idee seines Stifters, Robert Wetzlar (1847-1912), war es, der körperlichen Ertüchtigung sowie dem entspannenden physischen Ausgleich der arbeitenden Bevölkerung zu dienen. Hierzu gab es ein Schwimmbecken nach Olympianormen sowie einen fünf Meter hohen Springturm. Das Wasser des Schwimmbads wurde aus der Hill zur Speisung des Beckens abgeleitet.

Da es als Gemeinschaftsbad geplant war, brachte es aber auch wegen der dort herrschenden Freizügigkeiten viel Unruhe in das sehr katholisch geprägte Städtchen. Vor allem dieser Aspekt macht deutlich, wie sich die Eupener Bevölkerung in den 1930er Jahren positionierte: Die Kirche versuchte zwar „Sitte und Moral“ zu beeinflussen, was die Bevölkerung aber trotzdem nicht davon abhielt, das Bad überwiegend zu den Zeiten zu besuchen, in denen Männer und Frauen gemeinsam baden durften.

1940 wurde das Bad von der nationalsozialistischen Stadtverwaltung vorübergehend umbenannt in „Waldbad“, weil die jüdischen Wurzeln seines Stifters nicht mit der NS-Ideologie vereinbar waren.

Das nach der Befreiung wieder umgetaufte Wetzlarbad hat das soziale Zusammensein der Eupener Bevölkerung bis zu seiner Schließung im Jahr 2012 über 80 Jahre lang geprägt. Generationen von Eupenern lernten dort im Sommer schwimmen oder trafen sich zum gemütlichen Beisammensein auf der Liegewiese. Noch in den 2000er Jahren besuchten teils über 20 000 Schwimmer pro Saison das Bad, was nochmal den Stellenwert desselben für das soziale Leben in Eupen hervorhebt.

An Wochenenden in der Nachkriegszeit zog das Bad gar 1500-2000 Badegäste pro Tag an und war damit nicht nur für die Bevölkerung der Stadt ein Publikumsmagnet (1). In Rekordjahren (1989) waren es sogar bis zu 69 000 Besucher pro Saison.

Dementsprechend schätzte auch eine Schrift des Ministeriums der Deutschsprachigen Gemeinschaft die Bedeutung des Bades ein:

„Die Anlage ist aus architekturgeschichtlichen Gründen bedeutend, spiegelt die Entwicklung des Sportstättenbaus (vor allem in der Zwischenkriegszeit), die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sowie die Städtebau- und Siedlungsgeschichte der Stadt Eupen wider (…).“ (2)

Im Laufe der 1960er Jahre erlebte die Sport- und Freizeitkultur einen Durchbruch. Das Wirtschaftswunder und die steigende Produktivität machten es möglich, dass Angehörige aus Arbeiterfamilien und der Mittelschicht über mehr Freizeit verfügten und sich immer häufiger einen Besuch einer Freizeitveranstaltung leisten konnten. So erfolgte in den 1980er Jahren eine Modernisierung des Bades.

Das Wetzlarbad war ein Gemeinplatz der Freizeitgestaltung der Eupener Bevölkerung. Die Debatten, die sich um Badebekleidung und das gemeinsame Schwimmen entbrannten, sind ein Sittengemälde des beginnenden 20. Jahrhunderts in Eupen. Das Bad, einer der kunsthistorischen Schätze des Viertels Hütte, wurde im Jahr 2016 abgerissen. An seine Stelle wurde 2018 ein neues „Kombibad“ errichtet, das 2021 zu den Opfern der Flutkatastrophe gehörte.

Quellenangaben

(1) „Die Reise- und Feriensaison 1947“, in Grenz-Echo, 10.09.1947. 

(2) Ministerium der Deutschsprachigen Gemeinschaft (Hg.), Die Industriegeschichte der Eupener Unterstadt. Denkmalwerte Bauten des Industriezeitalters, Eupen 2015, S. 50.

Lesetipp

Sabine Haring, „Wer war Robert Wetzlar“, in Geschichtliches Eupen XL (2006), S. 51-52.