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Biographien

Marc Somerhausen

30.06.2022
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Während des Ersten Weltkriegs kam eine neue Idee auf: das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Dieses Recht sollte es allen Volksgruppen ermöglichen, über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden. Die Frage nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker spielt auch noch im heutigen Europa eine große Rolle. In Schottland und Katalonien beharren Unabhängigkeitsbewegungen auf ihr Recht auf Selbstbestimmung, um sich von ihren Nationalstaaten zu lösen. Russland stützte sich bei der Annexion der Krim auf eben jenes Selbstbestimmungsrecht der Völker …

Von besonderer Relevanz war diese neue Idee für Eupen-Malmedy-Sankt Vith, da dieses Prinzip bei der Angliederung des Gebietes an Belgien nicht wirklich angewendet wurde. Dies führte dazu, dass die Zugehörigkeit zu Belgien immer wieder in Frage gestellt wurde – vor allem durch Publizisten und Politiker in Deutschland und in Ostbelgien selbst, aber auch im belgischen Inland. Einer der ersten, der sich in der Zeit zwischen den Weltkriegen für die Grenzregion, für die Durchführung einer demokratischen und geheimen Volksabstimmung und später für die Rechte der deutschsprachigen Belgier einsetzte, war der Brüsseler Jurist und Politiker Marc Somerhausen (* 13. Juli 1899 in Ixelles; † 14. März 1992 ebendort).

Der älteste Sohn eines Rechtsanwaltes war jüdischer Abstammung und ein direkter Nachfahre von Dr. phil. Hartog Somerhausen, der sich im 19. Jahrhundert intensiv mit der Geschichte der belgischen Juden beschäftigt hatte, mit dem Aachener politischen Milieu der Jahre 1830-1850 verbunden war und gemeinsam mit dem Aachener Jacob Anton Mayer (1782-1857), dem Gründer der Mayerschen Buchhandlung, eine Buchhandlung in Brüssel führte. Hartog Somerhausen veröffentlichte damals als Erster eine Geschichte Belgiens in niederländischer Sprache.

Sein Sohn Marc besuchte bis 1914 die Deutsche Schule in Brüssel. Als 17-Jähriger gelang es ihm, über die Niederlande die Front in Flandern zu erreichen, wo er als Kriegsfreiwilliger in einem Artillerieregiment diente. Nach Beendigung seines Jurastudiums an der Freien Universität Brüssel erhielt Somerhausen ein Auslandsstipendium. Er studierte an der University of Wisconsin in Madison (USA). Hier lernte er seine zukünftige Ehefrau, Anne von Stoffregen, kennen. Nach seiner Rückkehr ließ sich Somerhausen als Anwalt in Brüssel nieder und wurde Mitglied der POB/BWP (Parti Ouvrier Belge/Belgische Werkliedenpartij/Belgische Arbeiterpartei).

1923 wurde Somerhausen als Delegierter zum Kongress der Sozialistischen Internationale in Hamburg gesandt. Dort sprachen Léon Blum, der spätere Ministerpräsident Frankreichs, und der elsässische Abgeordnete Salomon Grumbach zum Reparationsproblem nach dem Ersten Weltkrieg. Nach Somerhausens Rückkehr aus Hamburg bat ihn der damalige Justizminister Emile Vandervelde, beim sozialistischen Parteikongress von Juni 1923 in Brüssel ein Referat zu der Reparationsfrage zu halten.

Am 11. November 1923 kam Somerhausen zum ersten Mal im Auftrag der Partei nach Eupen, um dort eine Ansprache zu halten. Hier entstanden erste politische und schließlich freundschaftliche Kontakte zu Karl Weiss, dem Begründer der sozialistischen Bewegung in Eupen, die lebenslang anhalten sollten. Infolge dieser viel beachteten Begegnung mit Karl Weiss, berief der damalige sozialistische Justizminister Emil Vandervelde Somerhausen in sein Kabinett und schlug ihn als Kandidaten für die Parlamentswahlen im Wahlbezirk Verviers vor.

Bei den Kammerwahlen vom 5. April 1925 wurde Somerhausen zum Abgeordneten im Bezirk Verviers für die sozialistische Partei gewählt. Ein Viertel der Stimmen erhielt er aus Ostbelgien, dessen Bewohner damals zum ersten Mal an belgischen Wahlen teilnehmen durften. Somerhausen hatte sich im Wahlkampf für das Selbstbestimmungsrecht und die Durchführung einer freien und geheimen Volksabstimmung über die Staatszugehörigkeit des Gebietes eingesetzt.

Am 15. März 1927 trat Somerhausen in einer viel beachteten Interpellation entschieden für die Rechte der ‚Neubelgier‘ ein. Er forderte eine Neuauflage der „öffentlichen Meinungsäußerung“ von 1920 und brachte alle politischen Vorgänge zur Sprache, die sich vor, bei und nach der gerade erfolgten Eingliederung der drei Kantone an Belgien abgespielt hatten. Die Interpellation Somerhausens vom 15. März 1927 stellt bis heute einen Wendepunkt in der Nachkriegsgeschichte Belgiens dar.

Nach der Machtübernahme der Nazis im Jahre 1933 stand für die allermeisten demokratisch gesinnten Bewohner der neuen belgischen Gebiete fest, dass eine Rückkehr nach Deutschland nun nicht mehr wünschenswert war. Somerhausen engagierte sich fortan für die Rechte der Deutschsprachigen im belgischen Staatsverband, beispielsweise im Justizwesen und setzte sich für eine breite Zweisprachigkeit im ganzen Gebiet ein.

Bei Kriegsausbruch im Jahre 1940 wurde Somerhausen, der sich wiederum freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hatte, zur Luftabwehr eingezogen. Kurz darauf geriet er in deutsche Gefangenschaft und erlangte erst nach 1945 die Freiheit.

Während seiner Gefangenschaft wurde er bei der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) denunziert. Es wurde ihm vorgehalten, nach 1933 untergetauchte deutsche Sozialdemokraten beim Schmuggeln von illegalem Propagandamaterial von Belgien nach Deutschland unterstützt zu haben. Somerhausen wurde zwar vernommen, jedoch keiner weiteren Verfolgung ausgesetzt.

Nach seiner Rückkehr im Jahre 1945 leistete Somerhausen zeitweilig Dienst bei der Militärmission in Berlin. Nach den Wahlen von 1946 zog er nochmals, jetzt als Abgeordneter des Wahlbezirks Brüssel, in die Kammer ein. Dieses Amt bekleidete er für ein Jahr, da er 1947 zum Mitglied des neu eingerichteten Staatsrats ernannt wurde. Von 1954 bis zur Emeritierung 1969 war Somerhausen als Professor für Verwaltungsrecht an der Freien Universität Brüssel tätig. 1966 wurde ihm die hohe Ehre des Ersten Präsidenten des Staatsrates zuteil.

Quellen:

Heinz Warny, „Begegnung mit Karl Weiss in Eupen ließ in Brüssel aufhorchen“, in Grenz-Echo, 27.09.2007.

Heinz Warny, „Vor 80 Jahren erzwang Marc Somerhausen die erste große Eupen-Malmedy-Debatte der Kammer“, in Grenz-Echo, 27.09.2007.

Philippe Beck, Umstrittenes Grenzland. Selbst- und Fremdbilder bei Josef Ponten und Peter Schmitz, 1918-1940, Brüssel, P.I.E. Peter Lang, 2013 (Comparatism & Society 21), S. 117-120.

Geneviève Duchenne, Esquisses d’une Europe nouvelle. L’européisme dans la Belgique de l’entre-deux-guerres (1919-1939), Bruxelles, Peter Lang, 2008 (= Euroclio Nr. 40), S. 150, 215, 512, 556, 559, 565.