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Historische Räume

Morgens Grenz-Echo, abends Tagesschau

20.06.2022
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Lange Zeit gab es ein morgendliches und ein abendliches Ritual, das viele Ostbelgier teilten. Auch dieser Erinnerungsort sagt einiges über die Ostbelgier aus und hilft, sie besser zu verstehen. Während dieses Rituals wurde die Gedankenwelt vieler Ostbelgier auf gleiche Weise beeinflusst. Es zeigt, dass auch nationale Erinnerungsorte gar nicht so national sind, wie es manchmal scheinen mag.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Grenz-Echo die einzige deutschsprachige Tageszeitung Belgiens. Chefredakteur Henri Michel verstand es während zwanzig Jahren, die Zeitungsleserschaft Ostbelgiens nach Belgien hin zu orientieren. Mit einer etwas offeneren Haltung versuchte dies auch sein Nachfolger Heinrich Toussaint bis 1985. Als einziges ostbelgisches Blatt – unterbrochen von einigen Intermezzos der Neuen Nachrichten oder der Sankt Vither Zeitung – erreichte es morgendlich fast jeden Haushalt zwischen Ouren und Kelmis. Die Namen der Journalisten Heinrich Toussaint, Freddy Derwahl oder Heinz Warny sind den meisten Ostbelgiern geläufig. Allmorgendlich neigten sich die Köpfe vieler Ostbelgier also über Informationen aus der Region oder dem belgischen Staat.

Genauso geläufig sind aber auch die Namen der Tagesschaumoderatoren, die ab 1952 die Ostbelgier mit Nachrichten aus Deutschland versorgten. So fasst eine Hörerumfrage aus dem Jahr 1970 des Belgischen Hörfunks zusammen: „In Bezug auf die Fernsehstationen, wählen 80 Prozent der Fernsehzuschauer das deutsche Programm, d.h. ARD und ZDF.“ (1)

Die meisten werden, wenn sie „20:15“ hören, wahrscheinlich an den Beginn der „Hauptsendezeit“ denken. Viele Ostbelgier werden ab 20:15 mit den deutschen Zuschauern synchron geschaltet und erleben das Fernsehen so, wie es ihre Nachbarn tun. In anderen Ländern, auch im belgischen Inland, ist „20:15“ kein Begriff.  In vielen ostbelgischen Haushalten läuft vor der Tagesschau um 19:30 Uhr das Journal Télévisé der RTBF, so dass man sowohl über das Geschehen im Inland als auch über die Ereignisse im Nachbarland auf dem Laufenden ist.

Seit der Jahrtausendwende hat sich die Mediennutzung auch in Ostbelgien stark gewandelt. Das Fernsehen verlor gegenüber dem Internet an Bedeutung. Die Zeitung existierte unter den Massenmedien mit gleichbleibender, relativ schwacher Reichweite fort. Die jüngere Generation verwendet den Fernseher seltener, dafür umso häufiger das Internet. Erinnerungsorte wandeln sich beständig.

Die beiden Erinnerungsorte Grenz-Echo-Lektüre und Tagesschau machen wiederum deutlich, wie hybrid die Identität der Ostbelgier ist. Viele der deutschen Erinnerungsorte wie „Goethe“, „Duden“, „Käfer“ oder „D-Mark“ können Ostbelgier genauso gut wie ein Deutscher entschlüsseln. Ebenfalls verstehen Ostbelgier aber den Sinn von „Franken“, „Delhaize“ oder „König Albert“, also urbelgische identifikationsprägende Elemente. So überkreuzen sich in Ostbelgien nationale Erinnerungsorte. Obwohl diese als historisch-soziale Bezugspunkte einer einzigen Nation begriffen werden, zeigt das Beispiel der Tagesschau und der Grenz-Echo-Lektüre, dass nationale Erfahrungsräume sehr leicht verschwimmen können.

(1) Belgischer Hörfunk, Meinungsumfrage 1970. Brüssel 1970.