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Ein Geschenk für Ostbelgien

Der Baumstumpf im Wald: Ein Geschenk von Engelbert Cremer

22.11.2022
  • Labor
  • Ein Geschenk für Ostbelgien

Ich möchte Ostbelgien das Bild dieses unscheinbaren Baumstumpfes mit folgender Geschichte schenken.

Halt! Ein Wanderer auf einem Weg! Siehst Du mich da stehen? Ein Stumpf! Kein Geäst schützt mich vor Regen und Schnee. Nur ein Deckel, schwarz, wie die dunkeln Gedanken, die mich befallen, wenn ich an frühere Pracht denke.

Stell Dir vor: einst – es sind kaum 150 Jahre her – war hier kein Wald. Du sahst nur Heide und Ödland.

Weil die Menschen Holz brauchten, haben sie nach und nach alles kahl geschlagen: sie erzeugten Holzkohle, beheizten Hochöfen um Eisen zu gewinnen. Für einen Wagen Eisen brauchten sie 36 Wagen Holz. Sie wärmten sich an kalten Tagen am Feuer…

Aber keiner kam auf die Idee neue Bäume zu pflanzen. Auch die Selbstsaat wurde von Schafen, Ziegen, Rindern und Schweinen, die man hierhin trieb, weggeweidet. Eines Tages war der Wald weg. Regen wusch den ungeschützten kargen Boden aus. Ödland entstand. Die Eifler plagte der Hunger und die Not.

Sei also klug, Wanderer, und lerne daraus: Lass dich nicht nur vom „jetzt“ treiben! Denk an die Wurzeln. Wenn sie fehlen, entsteht Öde. Denk daran: Bäume brauchst du, zum Atmen, zum Leben, nicht nur des Habens wegen.

Damals, vor 150, Jahren kamen die Preußen. Sie waren die neuen Besitzer des „Attenborns“, so nennen hiesige das Gelände. 1859 sagten die Preußen: „Wir müssen neue Bäume pflanzen. Aber keine Buchen und Eichen, sondern Fichten, die gedeihen, auch auf kargen Boden“. Die Leute wehrten sich. Sie wollten ihr Weideland nicht verlieren. Sie nannten den Baum verächtlich „Preußenbaum“ und versuchten nachts die Setzlinge rauszureißen. Diese mussten von Polizisten und Soldaten geschützt werden.

Sei also klug, Wanderer, und lerne daraus: Manchmal muss man vom Gewohnten Abschied nehmen, der Zukunft wegen.

Ich hatte Glück und wurde nicht rausgerissen. Auch meine Kumpanen nicht. Wir wuchsen weiter. Belgier waren jetzt Besitzer des Attenborns. Anfang 1930 beschloss man aus dem Attenborn 5000 m³ Schnittholz rauszuschlagen, um den Neubau der Kirche von Medell zu finanzieren. Ich zitterte und dachte, jetzt kommt dein Ende. Aber man verschonte mich, ließ mich stehen, in Erinnerung an jene meiner Mitbrüder, die durch den Verkauf ihres Holzes zum Neubau der Kirche beigetragen hatten. Und man hatte dazu gelernt. Es wurden neue Fichten gepflanzt. Wie ihr seht, stehen sie jetzt in aller Pracht um meinen Stumpf herum.

Ich durfte unter den Jungen weiterwachsen und brachte es auf stolze 11 Kubikmeter Holz. Mein Umfang nahm zu (4,15 Meter; Durchmesser: 1,32 Meter), meine Höhe auch (38,3 Meter). Ich war weithin sichtbar, auch für den Blitz, der mich 2014 traf und zunichtemachte.

Du wirst Dich jetzt fragen, warum hat man den Stumpf stehen lassen und nicht weggemacht? Ich sag es Dir, Wanderer:

Er erinnert an das Vergangene. Auch an die Gebrechlichkeit des Vergangenen! Aber Lehren, die man daraus zieht, helfen Zukunft sichern. Denk daran: Es ist die eurer Kinder.

Diese Geschichte soll an Vergangenes erinnern und Lehre sein für die Zukunft. Es sollte auch an die vielen Menschen erinnern, die in Ostbelgien Geschichte wachhalten, daraus ein „denk mal“ machen, um vielleicht Zukünftiges anzustoßen. Sie helfen, dass „Denk-male“ nicht ins Reich des Vergessens gestürzt werden, aus Angst vor dem Erinnern oder weil das Erinnern schmerzhaft ist.

Engelbert Cremer

Medell