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Spuren der Veränderung

Das Ende des Stacheldrahtes

28.06.2022
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Wie viele Kinder haben sich Hosen und Jacken zerrissen, als sie unter oder über Stacheldrahtzäune geklettert sind? Wie viele Landwirte haben sich beim Aufspannen dieses widerspenstigen Drahtgeflechts geärgert, das so schnell zu kleinen Verletzungen führte? Und dennoch: Stacheldraht war unverzichtbar – auch auf den Eifeler Wiesen.

Erfunden wurde er in den USA. Dort trieben Rinderzüchter ihre halbwilden Longhorn-Rinder über die Great Plains von Süden nach Norden, wo sich u. a. in Chicago die großen Schlachthäuser befanden. Mit der zunehmenden Besiedlung stieg der Wert des Landes. Farmer wollten nun ihre Äcker vor nach Nahrung suchenden Rindern schützen, Eisenbahngesellschaften wollten ihre Schienenwege sichern und Rinderzüchter wollten ihr Weideland abschotten. Zahlreiche Tüftler entwickelten Vorläufer des Stacheldrahtes. Jener Typ Stacheldraht, der sich schließlich durchsetzte, ließ sich Joseph F. Glidden 1873 patentieren. 1874 wurde Stacheldraht erstmals industriell produziert. In diesem Jahr wurden fünf Tonnen produziert, 1883 waren es alleine in den USA schon 100 000 Tonnen.

Seit 1884 wurde Stacheldraht auch in Europa gefertigt und verkauft. Doch für viele europäische Landwirte – auch in der Eifel – blieb der Stacheldraht zu teuer. Hier waren Wiesen und Äcker bisher durch Steinwälle, Holzzäune oder Hecken begrenzt. Die Aufgabe der Viehhut übernahmen zudem noch immer Kinder. Sie wurden nicht bezahlt. Dass sie während dieser Zeit die Schule nicht besuchen konnten, wurde in der Bevölkerung nicht als Nachteil angesehen. Die Viehhut war im 19. Jahrhundert das größte Hindernis für eine allgemeine Schulbildung.

Im Ersten Weltkrieg wurde Stacheldraht zum Massenprodukt – zunächst auf den Schlachtfeldern. Er grenzte ab 1920 verstärkt die Wiesen, Weiden und Äcker ab – auch in der Eifel. Vor allem diese Heckenlandschaft ist besonders in den Gemeinden Büllingen und Bütgenbach erhalten geblieben, da hier die Hecken unter Schutz stehen.

Nun wurde dieser neue Zauntyp erschwinglich und ein Zeichen von Besitz, um den auch in unendlich vielen Streitfällen vor den Friedensgerichten gekämpft wurde. Nun verschwindet der Stacheldraht langsam von den Feldern. Immer mehr Großlandwirte in der Eifel haben in den vergangenen Jahren die ganzjährige Stallhaltung eingeführt. Das Verschwinden des Stacheldrahtes ist auch ein Zeichen dafür, dass sich das Land immer mehr in den Händen weniger befindet. Das Hofsterben, das in den 1960er Jahren langsam begann, macht die Zerstückelung der Landschaft in kleine Wiesen, Felder und Äcker durch den Stracheldraht nach und nach überflüssig. Und dennoch: Der Kampf um Weidepacht, Pachtrecht und Grundstücksgrenzen wird heute wohl genauso verbissen geführt wie zur Zeit des Stacheldrahtes.

Carlo Lejeune

Lesetipp: Joseph Dries, „Landwirtschaft auf dem Weg zur Monokultur. Klima, Märkte und Strukturen als beständige Herausforderungen“, in: Carlo Lejeune (Hg.), Grenzerfahrungen. Eine Geschichte der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, Bd. 3: Code civil, beschleunigte Moderne und Dynamiken des Beharrens (1794-1919), Eupen 2016, S. 142-163.