Hatte die Regionalpresse in diesen Jahren nicht oft über die „heimtückische“ Infektion berichtet? Seit Mitte des 19. Jahrhunderts trat sie auch in Europa vermehrt auf. Der Erregervirus – im Jahre 1908 entdeckt – konnte sich über das Rückenmark und Nervensystem auf den Bewegungsapparat und die Atmung niederschlagen und Lähmungserscheinungen hervorrufen. An der angeblichen Kinderkrankheit konnten sich auch Erwachsene infizieren.
Noch Anfang der 1950er fehlten wirksame Mittel gegen die Krankheit. In Belgien tat sich die „Ligue Nationale contre la Poliomyélite“ hervor, die für ihre Projekte bei den Gemeinden um Unterstützung warb. Die Mittel flossen in Informations- und Begleitkampagnen. Bei Atemlähmungen konnte der Patient mithilfe der „Eisernen Lunge“ therapiert werden. Der erschlaffenden Motorik wirkten Warm- oder Meerwasserbäder entgegen.
Infektionen traten verstärkt in den Sommermonaten auf. Als 1952 in Belgien bis Ende Juni bereits 126 Erkrankungen registriert waren (1), verschob das Gesundheitsministerium den Schulbeginn auf den 15. September (2). War ein Fall bekannt geworden, verboten Schulträger Unter-18-Jährigen z. B. den Zutritt zu Schwimmbassins und Spielplätzen ebenso wie die Teilnahme an Versammlungen. Trinkwasser war abzukochen sowie Gemüse und Obst vor dem Verzehr gründlich zu waschen.
Der Poliovirus verbreitete sich über Tröpfchen- und Schmierinfektion und die Hygiene-Maßnahmen muteten damals drakonisch an. Dabei führte die Liste der Todesursachen für das Jahr 1952 auf Nationalebene unter den 102.764 Todesfällen nur 34-mal Poliomyelitis als Todesursache an (0,03%) (3).
Ermutigende Nachrichten kamen aus den Vereinigten Staaten, wo die Vermehrung des Virus in Zellkulturen Aufsehen erregt hatte. Im Frühjahr 1955 entwickelte Jonas Salk das sog. Salk-Serum, ein Jahr später forschte Albert Sabin an einer Schluckimpfung …
In der Region wurde auf die positiven Aussichten reagiert. Exemplarisch soll hier die Gemeinde Heppenbach zitiert werden, in der zwei isolierte Fälle spinaler Kinderlähmung aufgetreten waren. Am 11. Januar 1957 protokollierte der Gemeinderat angesichts dessen: „Um jedoch im Falle einer Ausdehnung der Krankheit genügend ausgerüstet zu sein, wird beschlossen mit einem Arzt (…) zwecks Beschaffung von Impfstoff in Verbindung zu treten.“ Neun Monate später stand hier die Organisation einer ersten Schutzimpfung zur Debatte (4).
Das Gesundheitsministerium bot 1958 landesweit die kostenfreie Impfung aller Kinder im Alter zwischen 6 Monaten und 15 Jahren an (5), für oder gegen die sich die Eltern frei entschließen durften. Doch erst der Königliche Erlass vom 23. Oktober 1966 sollte diese Entscheidungsfreiheit beenden. 1967, zehn Jahre nach der ersten Kampagne in Heppenbach, wurde die Impfung gegen Poliomyelitis zur einzig gesetzlich vorgeschriebenen in Belgien, das 2002 seitens der Weltgesundheitsorganisation für poliofrei erklärt wurde.
Als unser Foto entstand, konnte das 14 Monate alte Patenkind bereits laufen. Kurz darauf nicht mehr. Der Hausarzt hatte die Symptome einer Kinderlähmung erkannt und verordnete zur Stimulierung der Beinmotorik zweimal täglich ein zehnminütiges Bad in 40°C warmem Wasser. Ein Gräuel für die Kleine! Die Wirkung der Behandlung, der sich beide Eltern gewissenhaft gewidmet hatten, linderte jedoch die paralytischen Beschwerden des Mädchens und verhalf dem Bild zum Anhaltspunkt einer erfolgreichen Familienerzählung.
Alfred Rauw
Aus ZVS, 2019/02, S. 41-42.
(1) Die spinale Kinderlähmung als endemische Krankheit, in GE, 30.07.1952
(2) GE, 30.08.1952
(3) Woran starben die Belgier? in GE, 15.06.1954
(4) Berichte der Gemeinderatsversammlungen in GE, 15.01. und 17.09.1957.
(5) Freiwillige kostenlose Impfung, in GE, 10.01.1958