Ende der 1960er Jahre nimmt die Diskussion um die Autonomie der deutschsprachigen Belgier an Fahrt auf. Viele Wähler stellen sich die Frage, welcher Platz den Deutschsprachigen nach der ersten Verfassungsreform im Belgischen Staat zukommen soll: Wie viele Deutschsprachige sollen im Parlament und Senat vertreten sein? Soll es einen Wahlbezirk für die Deutschsprachigen geben? Ist Ostbelgien noch ein Teil der Provinz Lüttich oder nicht? Wie soll der Kulturrat der deutschen Kulturgemeinschaft zusammengesetzt sein, welche Kompetenzen soll dieser erhalten und wie soll er gewählt werden?
Einer, der die Antworten auf all diese Fragen beeinflusste, war Charles-Ferdinand Nothomb. Den Werdegang Ostbelgiens begleitete und formte er unter anderem als Parteichef der frankophonen christlich-sozialen Partei (PSC) von 1972 bis 1979. Dabei ist er in dreifacher Hinsicht eine wichtige Stimme in der Debatte um die Autonomie der Deutschsprachigen: Er lernte die Politiker Ostbelgiens schon früh in seiner Laufbahn kennen und kam unter anderem auf Parteitagen mit ihnen in Kontakt.
Als Parlamentsassistent beschäftigte er sich wiederum sehr früh in seiner Karriere in den 1960er Jahren mit Themen, die die Deutschsprachigen betrafen. Zu guter Letzt muss seine familiäre Prägung erwähnt werden. Sein Vater, Pierre Nothomb, war eines der Zugpferde der annexionistischen, belgischen Bewegungen nach dem Ersten Weltkrieg. Überspitzt könnte man sagen, dass Pierre Nothomb aus Eupen-Malmedy einen Teil Belgiens machte.
Ein erstes Mal, 1972, beeinflusste Charles-Ferdinand Nothomb die Zukunft Ostbelgiens, als er in einer Beratung mit Edmond Leburton, der später Premierminister wurde, die Probleme Ostbelgiens auf die Agenda setzte. Auf seine Initiative hin, wurde ein Staatssekretariat für das Gebiet deutscher Sprache eingerichtet, das allerdings nur einige Monate existierte und die zahlreichen Probleme der Deutschsprachigen nur ansatzweise lösen konnte. Dieses legte unter Staatssekretär Willy Schyns fest, dass der Rat der deutschen Kulturgemeinschaft demokratisch gewählt werden würde. Allerdings konnte es in seiner kurzen Zeit des Bestehens keine Lösung für die sogenannte „Kriegsschädenfrage“ finden. Für ein Fortbestehen dieses Schlüssels zu den Lösungen der Probleme der Deutschsprachigen scheint sich Nothomb nicht eingesetzt zu haben.
Mitte der 1970er Jahre scheint sich das Interesse für die Belange der deutschsprachigen Belgier verstärkt zu haben, sodass Nothomb Ostbelgien eine gesonderte Rolle als Brücke in den deutsch-belgischen Kulturbeziehungen zuerkannte. Da er es aber nicht schaffte, den Belangen der Deutschsprachigen im Kontext der weiteren Regionalisierung Belgiens auf nationaler Ebene Gehör zu verschaffen, äußert er sich Beginn der 1980er Jahre zurückhaltend gegenüber einer weiteren Kompetenzübertragung zugunsten der deutschen Kulturgemeinschaft. Weil er als Außenminister anderen Themenfeldern seine Aufmerksamkeit schenken muss, verliert er für die deutschsprachige christlich-soziale Partei an Bedeutung.
Es ist nicht leicht, eine historische Bilanz des Einflusses Charles-Ferdinand Nothombs auf Ostbelgien zu ziehen. Als Vorsitzender der französischsprachigen christlich-sozialen Partei scheint er zahlreichen Gesetzesvorlagen neues Leben eingehaucht zu haben. Dabei musste er allerdings vor allem als Mittler zwischen den verschiedenen Flügeln seiner Partei agieren.
Bei dieser Bilanz muss vor allem in Betracht gezogen werden, dass Nothomb kein Föderalist war und auch nur bis zu einem gewissen Grad den Fragen, die sich den Deutschsprachigen stellten, Zeit widmen konnte. Vor allem seine Partei, die auch nicht mit einer klaren Stimme in Bezug auf die Autonomie auftrat, lässt das Handeln Nothombs wie ein Lavieren zwischen den Polen erscheinen. Auch wenn er Sympathien für die Ostbelgier hegte, so ermutigte und bestärkte der Vorsitzende der frankophonen Partei die Ostbelgier nie auf dieselbe Weise, wie es ein Leo Tindemans – Vorsitzender der flämischen christlich-sozialen Partei – getan hatte.
Auch hier muss wiederum seine Parteizugehörigkeit als Grund angeführt werden. Während Tindemans keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten seiner Parteikollegen nehmen musste, handelte Nothomb immer im Kontext seiner Partei und insbesondere der Sektionen der Provinz Lüttich. Die Parteizentralen in Verviers und Lüttich blieben nämlich lange Zeit sehr skeptisch gegenüber den Emanzipationsbestrebungen der deutschsprachigen Belgier, sodass ihr Handeln häufig paternalistisch erschien. In diesem Zusammenhang erscheinen die flämischen Christlich-Sozialen als sehr viel empfänglicher und verständnisvoller – auch vor dem Hintergrund ihrer eigenen Autonomiebestrebungen – als ihre frankophone Schwesterpartei.
Ein zweites Mal kommt Nothomb in seiner Eigenschaft als Parlamentspräsident (1996-1998) stärker mit der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Kontakt. Unter anderem macht er zu diesem Zeitpunkt die Eupenerin Patricia Creutz-Vilvoye zur Stellvertretenden Generalsekretärin der christlich-sozialen Partei. Ebenfalls war Albert Gehlen, deutschsprachiger Abgeordneter 1981-1999, in dieser Zeit ein enger Vertrauter. Insbesondere lassen ihn die Belange einer ländlichen Region wie Ostbelgien und die Beziehungen zwischen Luxemburg, Deutschland und Belgien näher an dieselbe Region heranrücken.
Quelle
Christoph Brüll, « Charles-Ferdinand Nothomb et les Belges germanophones: contribution à l’histoire des relations entre P.S.C. et C.S.P. », in Philippe Annaert, Catherine Lanneau, Vincent Dujardin (dir.), Charles-Ferdinand Nothomb. Une homme d’État, une époque. Actes du colloque tenu à Saint-Hubert le 10 juin 2016, Bruxelles, Archives Générales du Royaume, 2016, p. 87-98.